Während einer langen Recherche fallen einem viele Texte in die Hand. Manches überfliege, anderes vertiefe ich. Aber es geht nicht nur um Textstellen und gezielte Suchen. Es geht auch darum sich treiben zu lassen. Quer zu lesen. Um Neues zu erfahren. Gerade im Kontext einer Erinnerungskultur lohnt es sich, Bücher in Verbindung zu lesen. Um einzelne Geschichten greifbar zu machen. Ein Ausschnitt meiner aktuellen "Leseliste" während der Recherche zu #Tadschu. Die weiter ergänzt wird.
Egal womit ich an dieser Stelle beginne, es ist ein Anfang. Aber im Grunde steht kein einzelnes Buch irgendwie am Anfang. Es ist mehr eine verbundene Einheit. Texte, die in Beziehung stehen, irgendwie zu vernetzen.
Alfred Döblin - "Reise in Polen"
Ich liebe "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin. Aber seine "Reise in Polen" hatte ich vorher nicht auf dem Schirm. Nicht einmal ansatzweise. Obwohl es als Klassiker verlegt wird. Döblin beschreibt in diesem Buch ein Land im Aufbruch. In einer Zwischenzeit. Polen musste sich nach dem Ersten Weltkrieg erst finden. Wobei alleine dieser Satz in vielerlei Hinsicht viel zu kurz greift. Zu komplex ist die Gemengelage in den 1920er Jahren.
Döblin besucht dieses Polen 1924. Bevor er "Berlin Alexanderplatz" schreiben wird. Es ist mehr als ein Reisebericht. Es ist eine Bestandsaufnahme eines Landes, in dem vieles möglich werden könnte. Noch ist nicht klar, wie sich die Welt entwickelt.
Für mich sind es die Momentaufnahmen, Straßenzüge, vorbeihuschende Gestalten, die es so spannend machen. Döblin gibt mir die Möglichkeit, in Tadschus Zeit einzutauchen.
In die Zeit, in der er noch in Polen gelebt hat. Wenn Männer in Schiebermützen, die Tief ins Gesicht gezogen sind, und langen Mänteln, durch windige Straßen ziehen, während Frauen untergehakt aus den Lodzer Cafés gleiten, dann sehe ich Opa mit einer Straßenkarte dazwischen die Stadt erkunden.
Das Buch ist wie eine Zeitmaschine. Eine, die viel genauer und detailreicher ist als jeder schwarzweiße Clip es sein kann. Und deshalb eine wertvolle Ergänzung. Darüber hinaus schärft es aber den Blick auf das deutsch-polnische Verhältnis vor dem Zweiten Weltkrieg. Und friert so eine Zeit ein, die man sich sonst heute nur schwer vorstellen kann.
Wendy Lower - The Ravine
Ganz anderer Kontext. Wir sind in den Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs. Mitten im Holocaust. Und in der Recherche der us-amerikanischen Historikern Wendy Lower. In "The Ravine - A family, a History, A Holocaust" beschriebt Lower ihre Recherche zu einem Foto. Ein Bild aus dem Jahr 1941. Lower wird 2009 durch zwei Journalisten aus Prag auf das Bild aufmerksam. Es stammt aus einem Archiv in Prag. Das Foto zeigt eine Exekution in einem Wald in Miropol/Ukraine.
Warum ist das Foto so besonders? Es ist eines von wenigen, das die Täter im Moment ihres Handelns zeigt. Und obwohl wir in unserem Kopf alle viele Bilder aus dieser Zeit abgespeichert haben, gibt es nur sehr wenige, die das tatsächliche Morden, in diesem Augenblick zeigen. Lower zählt einige auf - kommt aber auch nur auf ein Dutzend.
Diese Recherche ist so lesenswert, weil sie im Detail startet und das große Bild erst nach und nach aufzieht. Ähnlich wie bei Tadschu geht es hier um minimale, kleinste Puzzleteile, die eine Rolle spielen. Einen Hinweis geben. Lower bei der Recherche weiterkommen lassen.
Nora Hespers - Mein Opa, sein Widerstand gegen die Nazis, und ich
Ein grandioses Buch. Hier kurz der Hinweis: Ich kenne Nora. Aber das nur der Vollständigkeit halber. In ihrem Buch geht es um ihren Großvater, Theo Hespers, einen Widerstandskämpfer, der einer breiteren Öffentlichkeit nicht bekannt ist. Und dennoch ein atemberaubendes Leben geführt hat. Das ihn allerdings nicht davor bewahrt hat, von den Nationalsozialisten ermordet zu werden.
Nora Hespers erzählt in ihrem Buch davon, dass sie die Geschichten über ihren Großvater über ihren eigenen Vater kennt. Lange nicht unbedingt glaubwürdig empfand. Doch das ändert sich mit der Zeit. Das Verhältnis zu ihrem Vater ist lange Zeit schwierig. All das ist Teil des Buches,
aber die Kunst ihrer Erzählung besteht darin, historisches mit heutigen Ereignissen in ein Verhältnis zu setzen. Um so Geschichte greifbar zu machen. Alleine deshalb ist das Buch lesenswert.
Aber auch, weil Nora Hespers beispielhaft zeigt, wie sich eine schier unüberschaubare Literatur und Archivlage durchaus gut ordnen und anschaulich erzählen lässt. Sie macht Zeit greifbar. Erlebbar. Eine wichtige Ergänzung für alle, die sich mit der Zeit zwischen 1910 und 1945 beschäftigen wollen. Hört ihren Podcast, schaut das Buch an.
Martin Aust - Erinnerungsverantwortung
Deutschlands Vernichtungskrieg und Besatzungsherrschaft im östlichen Europa 1939 – 1945
Erinnerungskultur - Erinnerungsverantwortung. Das ist ein Thema, mit dem ich mich erst im Verlauf der Recherche zu Tadschu mehr beschäftigt habe. Aber der Ansatz prägt mehr und mehr meine Vorstellung davon, warum es so wichtig ist, vergessene, liegengebliebene Geschichten zu erzählen. Wie denken wir übereinander, wenn wir von Polen und Deutschen sprechen. Wo kommen Vorurteile her, welches Wissen besteht? Der Osteuropahistoriker Martin Aust zeichnet die Gewaltpraktiken und Gewalterfahrungen der deutschen Besatzungsherrschaft und des Vernichtungskriegs von 1939 bis 1945 nach, heißt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Das Buch ist im September 2021 erschienen. Und es trifft meine Wahrnehmung als Enkel eines Heimatlosen Ausländers und Polen aktuell im Kern.
Darüber hinaus stößt es neben dem historischen Kontext die Debatte darüber an, warum es wichtig ist zu erinnern. Wie wir das tun. Und welche Entwicklungen es gibt. Vor dem Hintergrund um Diskussionen über neue Gedenkorte ein wichtiges Buch.
Thomas Ewald - Ausländische Zwangsarbeiter in Kassel 1940-1945
Dieses Buch ist eigentlich Quellenliteratur. Wie so vieles, was ich während der Recherche zu Tadschu lese. Aber es gehört genauso in diese Reihe hier. Denn es macht die Situation genau dort greifbar, wo Tadschu war. Das Buch nehme ich hier beispielhaft mit auf. Denn es funktioniert wie ein Skalpell der Zeit. Es gibt Ausschnitte wider, die exakt die Zustände der Zwangsarbeiter beschreiben.
Wie lebten sie? Was haben sie durchgemacht? Welche Zumutungen, Erniedrigungen, Erfahrungen mussten sie machen? Es sind Augenzeugenberichte, Erzählungen, Archivakten, die darin vorkommen.
Wissenschaftlich geordnet, und dennoch ein Buch, dass einen in dunkle Kellergänge führt, nackte Metallbetten spüren lässt und zum Augenzeuge von Schlägen durch Holzlatten werden lässt.
Für mich eines der wertvollsten Bücher zu diesem Zeitabschnitt. Und mit Sicherheit die Grundlage für eine künftige Auskopplung zum Thema Zwangsarbeit im Podcast.
Uwe Wittsock - Februar 33. Der Winter der Literatur
Größer könnte der Kontrast nicht sein: An Februar 33 von Uwe Wittstock kommt man im Augenblick so leicht nicht vorbei. Wer sich mit der Zeit vor dem Nationalsozialismus beschäftigt - und etwas quer liest - stößt sofort auf dieses Werk. Ich will wissen, wie Opa in den 30ern in Polen lebte. Aber parallel will ich auch verstehen, wie sich Deutschland zu diesem Land entwickelte, das ihn sieben Jahre später an sich riss.
Im Februar 1933 entschied sich auch für regimekritische Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Deutschland alles. Die Nationalsozialisten hatten die Macht übernommen. Reichspräsident Hindenburg hatte Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt.
Und Wittstock macht genau das, was mir wichtig ist für meine Leseliste, die ich mir parallel zu Tadschu anlege: Er nimmt einen Blick ein. Den von Bertolt Brecht, Alfred Döblin. Von Thomas Mann. Er wird zu ihren Augen,
und ich als Leser kann abermals eine Zeitreise machen. Wer fühlen will, erkennen will, wie gewisse Umstände waren, kommt um solche Texte nicht herum. Oder anders gesagt: Sie helfen einem, sich anwesend zu fühlen.
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