Aufhalten, um einen Staus Quo zu erhalten. Stacheldrahtzäune, gezwirbelte Metalldrähte in namenlosem Terrain. Die Situation an der polnischen-belarussischen Grenze ist unübersichtlich. Aber die Grenzen entstehen vor allem im Kopf. Aus Ungleichheit.
Ich glaube, wir machen uns oft gar nicht bewusst, wo „unser“ Europa endet.
Und wo Europa weitergeht. Allerdings als Kontinent. Ein anderes Europa. Mich erinnern die Bilder an der Grenze zwischen Polen und Belarus, die scharfen, verletzenden Metalldornen, Gitterdrähte auf braunem, leblosen Boden an Grenzlager. So wie es sie auch im zweiten Weltkrieg gab. Dort, wo Menschen, die beispielsweise als Zwangsarbeiter nach Deutschland gebracht wurden, untergebracht waren. Gecheckt wurden. Entscheidungen fielen, über die sie selbst keinen Einfluss hatten. Natürlich war das eine komplett andere Situation. Aber eine Parallele gibt es: Und das ist die Klassifizierung. Menschen in Schubladen stecken, ordnen, sie zum Werkzeug machen. Das ist diesen Situationen gleich.
Wir diskutieren spätestens seit 2015 fortlaufend, mal mehr, mal weniger, über den Begriff des Flüchtlings.
Meistens in seiner maskulinen Form. Das Flüchtende ganz unterschiedliche Antriebe für ihre Flucht haben, das ist immer wieder debattiert worden. Vieles wurde gesagt. Oft das Bekämpfen von Fluchtursachen gefordert. Und dennoch: Die Menschlichkeit ist auf der Strecke geblieben. Sie blitzt hin und wieder auf. Am Ende aber bleibt es dann doch die neue „Welle“, die Menschen in hilflosen Situationen über einen Kamm schert. 4. Welle, Flüchtlingswelle. Hungerwelle. Hitzewelle. Wir sind so überspült, dass wir für die darunterliegende Thematik oft taub geworden sind. Und ein Bild wird fixiert: Es sind Fremde, die alles mitbringen. Aber nichts Gutes.
So ist es auch jetzt wieder: Zwar gibt es pausenlos und unübersehbar Bilder, Videos, Berichte über die Situation an der EU-Außengrenze. Frierende Familien, kleine Kinder. Nebel, Regen. Matsch. Leid. Furcht. Alles dabei. Und dennoch: Das Narrativ - wir können, dürfen sie nicht reinlassen, denn dann wird es schlimmer - es bleibt bestehen. Als hätten wir aus den Situationen der vergangenen Jahre nicht mehr gelernt. Zuletzt hat es der sächsische Ministerpräsident Kretschmer wiederholt. Natürlich ist es einfach, seiner Argumentation eines illegalen Grenzüberschritts zu folgen. Wenn man denn will. An dieser Stelle ist das aber zu einfach. Und wird einer europäischen Idee von Menschenrechten nicht gerecht. Wieder einmal nicht.
Jetzt kann man sagen: Humanistische Idealvorstellung, hat nichts mit der Realität zu tun. Erst recht nicht in einer Pandemie-Situation, in der sich jedes Land selbst am Nächsten steht. Man könnte aber auch sagen: Das ist eine Realität, die man eben selbst verschlafen hat. Die immer und immer wieder hervorbricht, und solche „Krisen“ erst möglich macht.
Es ist aber eine andere Grundvoraussetzung, wenn Menschen als politisches Druckmittel eingesetzt werden. Der Begriff der „hybriden Kriegsführung“ beschreibt das so klar wie grotesk. Denn damit verkommen Schutzsuchende zu Material, zu seelenlosen Irrläufern einer Weltgesellschaft, deren einziger Zweck ist, andere Nationen zu stören.
Ihre Herkunft, ihre Heimat, wird ausgeblendet. In ihrem fremdgesteuerten Dasein verkommen die Menschen an den Grenzzäunen zu Problemhüllen, in die jegliche fehlgeleitete Politik hineingeworfen wird.
Push-Backs. Druckmittel. Angst vor subsidiären Schutzleistungen. Ein distanziertes Verhältnis zum EU-Partner Polen, dessen Politik aus deutscher Sicht so wenig greifbar ist. Und nationalistische Tendenzen, ein teilweise EU-feindlicher Politikstil dieses Bild weiter prägt.
Aber verschieben wir doch die Grenze für einen Moment. Stellen wir uns vor, sie läge weiter westlich. Hier bei uns. Wie lange würden wir zusehen? Wann würde der Stacheldraht ausgerollt, wann stünden Soldaten an Zäunen ausgezehrten Menschen gegenüber? Und würden wir anders argumentieren? Ich habe den Eindruck: ja. Und das ist das Grundproblem unseres gemeinsamen Europas - wir stehen nicht dafür ein. Nicht ehrlich. Nicht für die Ideen von Menschlichkeit. Noch für die Idee der Gleichheit. Oder einem Handeln auf Augenhöhe zwischen Mitgliedsstaaten. Wir sind Lichtjahre davon entfernt, eine gemeinsame europäische Politiksprache formulieren zu können. Bürokratische Monsterinstitutionen sind das Einzige, was unser Bild einer geneinsamen EU prägt. Der Bundestagswahlkampf hat die europäische Frage geradezu ausgeblendet. Die Internationale Politik eines gemeinsamen Raumes liegt im Tiefschlaf. Und an dieser Stelle haben wir noch nicht die Situation der Flüchtlingslager, das Elend und elendige Bild der Zurückgedrängten besprochen.
Sichtbar wird ein politisches Problem damm, wenn Menschen darunter leiden, dass andere sich uneins sind. Auch wenn der Ursprung für diesen Druck und dieses perfide Handeln in Minsk liegt. Nach vielem, was bekannt ist. Ausgeübt werden kann diese Druck-Politik aber nur, weil wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben.
Unsere Grenzen werden von undurchsichtigen Grenztruppen überwacht, umschippert. Wir senden ein düsteres Signal der Abschottung in einer komplexen Welt voller Bewegung. Demnächst werden wir wieder sammeln. Für die Ärmsten. In Afrika. In Marathon-Veranstaltungen werden Millionen gezählt. Alles okay. Aber wir sollten endlich lernen vor der eigenen Haustür Probleme zu lösen.
Denn die nächste Krise kommt. Der nächste Politiker, der Druck ausüben möchte. Die nächste humanitäre Katastrophe.
Flucht bleibt. Selbst wenn Zäune nicht mehr weggeräumt werden.
Am Ende hilft nur eine Frage, und die muss jeder für sich selbst beantworten. Wie wollen wir menschlich handeln, ohne unmenschlich zu handeln? Oft denke ich dabei darüber nach, was wäre, wenn ich mit meinem Großvater Tadschu über unser Heute sprechen könnte.
In Bezug auf die Situation in Polen, an der Grenze zu Belarus, würde er - der unfreiwillig kam und seine Heimat nie wieder sah - sicher sagen: Wir sind uns nicht fremd. Oder fremder. Nur weil wir aus verschiedenen Ecken dieses Kontinents sind.
Dieses bisschen Menschlichkeit sollten wir uns bewahren. Auch in einer politisch schwierigen Situation.
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