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AutorenbildPatrick Figaj

Schau zurück. Gerade jetzt.

Wem hilft Erinnerung in Kriegszeiten? Ist es in Ordnung zurückzuschauen, auf einen Krieg, auf Leid, auf Schicksale, die Jahrzehnte zurückliegen - während in der Ukraine Menschen wegen eines perfiden Angriffskriegs Russlands ihre Leben lassen?

Foto: Pexels/Kaboompics

Erinnerung aufzuarbeiten fühlt sich im Augenblick manchmal seltsam fremd an. An einigen Tagen fast falsch. Aber nur für Sekunden. Denn ich glaube, sie ist wichtiger denn je.


Babyn Jar. Deutsche Nationalsozialisten und Helfer erschossen am 29. und 30. September 1941 in einer Schlucht bei Kiew über 33.000 Jüdinnen und Juden. Für sich alleine genommen das größte Massaker im Zweiten Weltkrieg in Europa. Unvorstellbare Tage. Wirklich? Dazu später. Es gab weitere grauenvolle Massentötungen auf ukrainischem Boden. Kamjanez-Podilskyj. Berdytschiw. Das Morden fand nicht in Lagern statt. Erschießungskommandos übernahmen das. Experten sprechen vom "Holocaust by Bullets" - also der Holocaust durch Kugeln, durch Erschießen. Patrick Desbois hat den Begriff unter anderem durch sein gleichnamiges Buch geprägt. In der Erinnerungskultur, Aufarbeitung steht diese Phase bis heute im Bekanntheitsgrad hinter den Massenvernichtungen in Gaskammern auf polnischem Boden. Ein schwieriger Komplex, der auch viel mit der fehlenden Aufarbeitung in diesem Kontext durch die Sowjetunion zu tun hat.


Ende März ist die riesige siebenarmige Menora zerstört. Ein jüdischer Leuchter, eines der Symbole überhaupt. Wahrscheinlich ein versehentlicher Treffer durch die russische Armee. Aber Babyn Jar ist getroffen. Das Denkmal getroffen. Die Erinnerung getroffen. Die Seele der kollektiven Erinnerung tief verletzt. Die Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar will eine Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine einleiten.


Parallelität. Immer wieder.

Egal wohin der Blick, die Aufmerksamkeit sich richtet. Ich lese heute oft, dass wir das Gespür für Krieg, für Leid, für Empathie verlernt haben. Dinge distanziert bewerten. Gleichzeitig lese ich auch, dass #Erinnerungskultur damit brechen muss, in festen Ritualen zu verharren. Das mag sein. Aber meine Auffassung von Erinnern ist ohnehin eine andere. Ich schreibe, erzähle, ordne beispielsweise das Erlebte meines Großvaters im Kontext jener Zeit, um aus seiner Geschichte so vielen Menschen wie möglich etwas mitzugeben: Vergangenheit zu verstehen.


In ihrer subjektiven Komplexität. Aber auch als Hilfe. Um neues, verwirrendes Weltgeschehen zu reflektieren. Vieles wurde von Menschen, die vor uns lebten, schon erlitten und erfahren. Daraus können wir viel lernen. Wenn wir hinschauen. Uns darauf einlassen. Verstehen wollen. Den Rucksack der Geschichte aufsetzen und mit uns tragen. Nicht um belehrend zu sein. Sondern um aus dem stärker hervorzugehen, was vor Jahrzehnten genug Leid ausgelöst hat. Ja. Um in eine bessere Welt überzugehen. Eine friedvollere, gemeinschaftlichere Welt. Ein hehres, aber naives Ziel? Mag man so nennen. Doch ich bin davon überzeugt, dass jeder Satz, jedes zurückliegende Erlebnis dazu beitragen kann, Menschen aufzuzeigen, dass es auch andere Wege als Krieg und Gegeneinander geben kann. Mein Großvater war #Zwangsarbeiter. Er überlebte den Krieg. Ja. Etwas völlig anderes? Nein. Etwas anderes? Ja.


Wir können Ereignisse nie direkt miteinander gleichsetzen. In mancher Beziehung ist das auch völlig Fehl am Platz. Den Holocaust in Beziehung zu aktuellen Kriegsverbrechen zu stellen beispielsweise. Mehr als schwierig. Denn es wird beidem nicht gerecht: Der Massenvernichtung von Millionen Menschen nicht. Und der damit verbundenen, nie abschließbaren Aufarbeitung nicht. Und auch nicht den aktuellen Ereignissen. Von denen wir erste Ausmaße gerade erst einzuschätzen versuchen. Beides sind getrennte Ereignisse, die wir verstehen und verarbeiten müssen.


Während ich das hier tippe, laufen Neonazis durch meine Stadt. In Gedenken an einen ewig Gestrigen, der für sie offenbar wichtig war. Wenige haben sich ihnen angeschlossen. Sie tragen eine Fahne. Grölen lauthals. Und stellen sich über andere. Es sind nur wenige. Sie finden kaum Beachtung. Und dennoch: Es gibt sie. Sie können in einer wehrhaften Demokratie ihre Meinung herausschreien. Auch wenn sie abgrundtief falsch ist und vor Hass trieft. Während sie das tun können, stellen sie es aber in Frage, dass man das darf.


Wir leben in einer Welt voll paralleler Deutungen.

Kriege und deren Ursprünge bauen oft auf fadenscheinigen Gründen. Abseits der Frage, wie Krieg sich überhaupt rechtfertigen lassen kann, verstehen wir beispielsweise die Argumentation Putins, Russlands, nicht im Geringsten. Oder wenn wir es versuchen, ergibt sich für uns nur ein völlig chaotisches Bild voller Wahnvorstellungen. Der 1. September 1939 - der Überfall auf Polen. Der fingierte Überfall auf den Sender Gleiwitz. Eine ganz andere Situation. Eine andere Zeit. Und dennoch: Aus heutiger Sicht ist klar, wie absurd vorgeschoben die deutsche Verteidigungsstrategie war, um einen Angriffskrieg zu rechtfertigen.


Ein Angriffskrieg 1939. Ein Angriffskrieg 2022. Dazwischen liegen 83 Jahre. Ein durchaus ausgefülltes Menschenleben. Wir verdrängen Dinge. Wir vergessen sie. Wir können uns nicht alle an alles erinnern, was wir erlebt haben. Anders ist es mit einschneidenden Erlebnissen: Die vergessen wir nicht. Meistens nicht. Wenn sie nicht verdrängt werden. Denn auch das ist menschlich: Harte, schicksalhafte, schmerzliche Erinnerungen müssen wir auch ausblenden, um nicht den Verstand zu verlieren. Neue Generationen müssen immer wieder die Chance haben, neues aufzubauen, alte Stränge zu vergessen. Um neue Chancen zu erhalten. Neues möglich zu machen.


Das heißt allerdings nicht, dass sie vergessen dürfen. Oder wir ihnen nicht die Möglichkeit geben, den mit gepackten historischen Erinnerungen gefüllten Rucksack weiterzutragen. Nur so lässt sich reflektieren. Fehlt diese Auseinandersetzung, kann es sein dass die Folgen des eigenen Handelns nicht mehr vorhersehbar sind. Die russische Erinnerungskultur ist geprägt von diesem einseitigen Defizit. Einen aufschlussreichen Thread auf Twitter hat Alice Bote dazu geschrieben:





»Demokratie ist im Grunde die Anerkennung, dass wir, sozial genommen, alle füreinander verantwortlich sind.«

Das ist ein Zitat von Heinrich Mann. Und ich finde, das gilt auch für die Erinnerung. Die Erinnerungsverantwortung, wie sie der Historiker Martin Aust nennt. Verantwortung zu übernehmen, gegen das Vergessen. Aber nicht nur im Großen. Sondern im Allgemeinen. Im Kleinen wie im Großen. Nur so lassen sich Zwischentöne verstehen.


Mich hat beispielsweise von Anfang an der Begriff der "Spezialoperation" in der Ukraine getriggert. Ein Wort, dass mich immer wieder an die sogenannte AB-Aktion der Nazis erinnert. Die gezielte Tötung der polnischen Elite nannten sie "Außerordentliche Befriedungsaktion". In diesem Zusammenhang sind auch Listen bekannt. Die im Sonderfahndungsbuch Polen festgehalten waren. Listen mit Namen. Auch davon war nach dem Angriff auf die Ukraine wieder die Rede. Ob und in welcher Art Namen, Menschen tatsächlich gesucht und verfolgt werden. Oder sollen. Das können wir bislang nur in Ansätzen erahnen. Aber wir haben eine Vorstellung davon. Kriegsabläufe können wir auch deshalb versuchen einzuordnen, weil es historische Dokumente gibt. Vergleiche zu suchen um zu verstehen. Um einordnen zu können. Ohne gleichzusetzen. Darum geht es. Eingangs habe ich davon geschrieben, wie unvorstellbar das ist, was wir über die Massentötungen wissen. Lesen können. Unvorstellbar war. Denn kaum einen Satz höre ich in Gesprächen heute so oft wie:

Wir erleben gerade, worüber wir bislang nur gelesen haben.

Oder von Zeitzeugen gehört haben. Selbst müssen wir uns eingestehen, dass wir Konflikte ausgeblendet haben. Oder nur dumpf an uns herangelassen haben. Sie vielleicht in ihrer Form nicht wahr haben wollten. Obwohl das, was in Syrien, Afghanistan, aber auch schon in Jugoslawien passiert ist, eben jene Dimension hat, die wir jetzt schmerzlich in der Ukraine erleben. Die Gründe für die aktuelle Betroffenheit, die Nähe, das Gespür von Angst, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen. Nur das: Sich nicht ausreichend damit zu beschäftigen, war fatal.


Ob das am Ende mit fehlender Erinnerungsverantwortung zu tun hat? Ich glaube nicht. Möglicherweise aber mit mangelndem Erinnerungsinteresse. Das durch immergleiche Muster und Rituale gebetsmühlenartig abgeschliffen wird. Monothematischer Erinnerungskontext hat uns mit Sicherheit in Teilen abgestumpft. Das Gespür von konfliktgeladenen Situationen unterschätzen lassen. Wir brauchen dieses Gespür aber jetzt. Konflikte, die von innen und außen an uns herangetragen werden. Die unsere Gesellschaft beschäftigen, brauchen ein Gegengewicht. Eine Einordnung. Ein Verständnis der Vielen. Nur damit sind wir gewappnet, nicht in einer erinnerungslosen Zukunft abzudriften.

Denn das wäre wirklich fatal.

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